„Vielleicht ist das Fenster der Möglichkeiten aktuell nicht offen, aber wir können genug Kraft entwickeln, um es einzuschlagen.“ – Redebeitrag von PSK zum 1.Mai

Nachfolgend dokumentieren wir unseren Redebeitrag zur 1.Mai-Bündniskundgebung „Krise? Nicht auf unsere Kosten!“ in Kiel.

Lieber Kieler*innen, Liebe Genoss*innen, Liebe Freund*innen,

was für Zeiten, in denen wir hier am 1. Mai trotz dieser schwierigen Umstände zusammenstehen. Was für Zeiten, in denen wir hier auch gerade wegen dieser schwierigen Umstände und allem was daraus folgen wird stehen: Gegen ein Abwälzen der Krisenkosten nach unten, Gegen die autoritäre Formierung, gegen Abschottung und nationale Krisenlösungen, gegen ein System, das Profite über Menschenleben stellt und für ein Leben in wirklicher Sicherheit, Würde und Solidarität.

So sehr Corona doch gerade einen Ausnahmezustand darstellt, so ist das Virus auch ein Brennglas der permanenten Widersprüche und Ungerechtigkeiten, auf denen dieses System fußt und die es tagtäglich reproduziert. Diese Krise – oder vielmehr diese Krisen, sprechen wir doch von einer gesundheitlichen, ökonomischen und sozialen Krise, trifft nicht alle gleich, sondern verschärft sich, je nachdem welches Geschlecht du hast, welcher Klasse du angehörst und wo du herkommst. Wenn Menschen zu Hunderten oder Tausenden in Flüchtlingsunterkünften zusammengepfercht sind, ist an physical distancing und die Einhaltung hygienischer Standards nicht zu denken. Dabei wird offensichtlich, dass die von der Politik appellierte Solidarität eine vornehmlich nationale ist, die kein Problem darin sieht, Menschen auf Lesvos ihrem Schicksal zu überlassen. Während die EU die Aufnahme von einem Bruchteil der Geflüchteten aus Moria wochenlang aushandeln musste und dann vollen Ernstes stolz die Aufnahme von gerade mal 50 Menschen in Deutschland verkündete, ist es aber kein Problem, für die hiesige Spargelernte tausende Menschen einzufliegen. Dies war notwendig, weil dies die sonst in diesem schlecht bezahlten und knochenharten Job Schuftenden, aufgrund des Gesundheitsrisiko diesmal nicht übernehmen wollten. Dafür werden weder Kosten oder Mühen gescheut noch zu genau bei der Einhaltung von Mindestabständen hingeschaut. Die größten Corona-Partys feiert doch immer noch das Kapital. Im Gegensatz zu drei Jugendlichen, die zu nah auf einer Parkbank chillen, haben Spargelhofbetreiber dafür mit einem Bußgeld oder rechtlichen Konsequenzen wohl nicht zu rechnen. Viel zu wichtig ist die Agrarlobby für die deutsche Wirtschaft und der Spargel für den deutschen Volksmund. Nicht falsch verstehen, auch wir lieben Spargel, am liebsten mit schön viel Sauce Hollandaise, aber nicht, wenn dafür in vollem Bewusstsein mit dem Leben der Erntehelfer*innen gespielt wird, die eben keine andere Wahl haben, als ihre Arbeitskraft trotz des Risikos zu verkaufen. Und so ist die traurige, bittere und aber wenig verwunderliche Realität, dass es bereits zu einem Corona-Todesfall auf einem Erntehof in Baden-Württemberg kam, bei zig weiteren nachgewiesen Infektionen. Auch dieser Mord geht damit auf das Konto des Kapitals. Dabei sind solche skandalösen Fälle nicht auf Spargelhöfe begrenzt, sondern die Verbreitung von Infektionen finden auch in Wurstfabriken in Pforzheim, in Amazon-Logistikcentern in Winsen und in Call-Centern in Barcelona statt.

Auch in etlichen Krankenhäusern kam und kommt es zu zahlreichen Infektionen, was einerseits logisch klingt, da es in Krankenhäusern mehr Kontakt mit Corona-Infizierten gibt, aber auch daran liegt, dass das medizinische Personal in vielen Krankenhäusern mit desaströsen Bedingungen konfrontiert ist und es an Ausstattung und Personal fehlt. Das ist nicht weniger als das Ergebnis jahrelanger Kürzungen und einer zunehmenden Profitorientierung im Gesundheitssystem, vornehmlich auch als deutsches Exportmodell, welches im Zuge der von Deutschland durchgedrückten Sparpolitik Ende der 2000er die Gesundheitswesen in Italien, Spanien und Co. zerlegt hat. Trotz Jens Spahns gönnerhaft anerkannter Systemrelevanz hat die Politik für Pflegekräfte außer Applaus, Schokolade und mit Glück einer einmaligen Bonuszahlung auch weiterhin nicht viel zu bieten.

Dennoch scheint die aktuelle Situation für eine Diskursverschiebung gut: In der kurzen Angststarre, in der sich auch weite Teile der Wirtschaft den Restriktionen im Sinne der Gesundheit unterordnen mussten, offenbarte sich, welche Jobs überhaupt bzw. eine besondere Relevanz für uns haben, und das nicht im Sinne, dass sie dieses skrupellose System aufrechterhalten und dabei noch ausgebeutet werden, sondern dass ihre Arbeit unverzichtbar für unsere Gesellschaft ist. Darin zeigt sich, wer eigentlich relevante Arbeit leistet: Ähnlich wie die Pflegekräfte ist das Personal im Logistik- und Transportsektor, der Lebensmittelproduktion, Verkäufer*innen, Reinigungskräfte, Sozialarbeitende oder Erzieher*innen zu weiten Teilen weiblich und migrantisch geprägt und darüber hinaus prekär beschäftigt und unterbezahlt. Während also die, die den Laden hier am Laufen halten, mit dem fortschreitenden Abbau von Arbeitsrechten, z.B. Sonntagsarbeit oder 12-Stunden-Tagen belohnt werden, können all die Bullshit-Jobs, die nicht mehr sind als unnütze aber viel zu gut bezahlte Nonsensbeschäftigungen, auf einen staatlich finanzierten Bailout ihres Sub-Sub-Subunternehmens nach der Krise hoffen.

Apropos wer leistet hier eigentlich die relevante Arbeit. Die Schließung von Schulen und Kitas, die Einschränkung von Pflege- und Sozialeinrichtungen und die Zunahme sozialer Ängste verlagern die damit verbundenen Aufgaben zurück in die eigenen vier Wände. Zusätzlich zu der eh schon anfallenden Care-Arbeit wie putzen, kochen, Wäsche waschen, Kinder betreuen und Verantwortung für die Familie übernehmen, werden diese Aufgaben in das Private verschoben. Das Ganze unbezahlt und zu 80% von Frauen* übernommen. Viele dieser Frauen* müssen aber auch noch das Geld für die Miete und Essen verdienen, was sich aber quasi als unmöglich erweist, wenn Einzelhandel und Produktion weiterlaufen bzw. wiederöffnen, während die Schulen und Kitas weiterhin geschlossen sind. Diese Krise ist damit auch eine Zuspitzung der vergeschlechtlichten Care-Krise.

Diese Krise kann also auch als Moment begriffen werden, in dem die Widersprüche dieses Systems offen zu Tage gefördert werden. Aber liegt darin auch eine Chance und öffnet sich gerade ein so gerne herbeigeschriebenes „Fenster der Möglichkeit“ oder ist die Situation „nicht offen, sondern scheiße“? Deutlich wird auf jeden Fall, dass das Morgen und die Welt nach Corona bereits heute ausgehandelt und dabei mit allen Mitteln versucht wird, die Folgen der Krise dauerhaft nach unten durchzureichen. Die von der Bundesregierung geschnürten Milliarden-Hilfspakete werden zu weiten Teilen an wenige Großkonzerne ausgeschüttet, verschiedene Lobbys bringen sich in Stellung um ein großes Stück vom Kuchen abzubekommen und etwa die Autolobby fordert gleich die Streichung von weiteren Umweltauflagen mit. Da „Geld ja nicht vom Himmel fällt“, wie der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg Kretschmer so klug sagte, müssen all die Hilfsprogramme natürlich irgendwie zurück in die Kasse gespült werden und das wird vor allem durch Steuerzahlungen der Lohnabhängigen erfolgen. Ganz im Sinne der Grünen demokratischen Union stellte Kretschmer dazu fest, „die meisten Menschen werden nach der Krise erst einmal ärmer sein“. Die Corona-Kredite sind also ein Umverteilungsprogramm ans Kapital und werden mit knallharten Sparprogrammen einhergehen, die in der letzten Krise vornehmlich noch exportiert wurden. Fragt sich also, wie lange man noch damit wuchern kann, dass die Gesundheitsversorgung hier so viel besser klappt als in Spanien und Italien. Miese Aussichten, vor allem, wenn man sich ins Gedächtnis ruft, dass auch die Massenproteste und Platzbesetzungen gegen das deutsch-europäische Austeritätsregime die flächenhafte Verarmungspolitik nicht verhindern konnte.

Also doch alles scheiße? Ja und Nein. Nein, weil sich weltweit Kämpfe und Solidarität am Arbeitsplatz, in Wohnhaus und Stadtteil, in Lagern und Gefängnissen erheben. In Geflüchtetenlagern und Gefängnissen kommt es weltweit zu Streiks, Hungerrevolten und Aufständen, um sich nicht dem tödlichen Virus aufgrund von mangelnder hygienischer Versorgung und Platz aussetzen zu müssen.

In vielen Stadtteilen werden über Soli- und Unterstützungsnetzwerke gegenseitige Hilfe organisiert und neue soziale Verbindungen geknüpft. Leute merken, dass sie nicht alleine sind und sozial doch gar nicht so weit von den Nachbar*innen entfernt, wie man ihnen immer weismachen will. Communities organisieren sich, verteilen Essen und kümmern sich umeinander. Im französischen Saint-Barthélemy wurde eine McDonalds-Filiale zu einer kostenlosen Foodbank umgewandelt und in Santiago de Chile desinfizieren die Jugendlichen der Primera Linea, die sonst die Massenproteste und Riots vor gewalttätigen Cops schützen, die Metros, damit sich das Virus nicht unter der arbeitenden Bevölkerung verbreitet. In einigen Ländern wird seit einigen Wochen zu Mietstreiks aufgerufen. In New York wollen ab heute 400 Familien und eine Vielzahl an Unterstützer*innen organisiert in den Streik gehen, im spanischen Staat folgten über 16.000 Familien dem Aufruf: „Du kannst entweder nicht zahlen, weil du kein Geld hast – und irgendwann fliegst du aus deiner Wohnung -, oder wir können in den Mietstreik treten und gemeinsam kämpfen“.

Weltweit kam es zu Arbeitsniederlegungen wegen nicht eingehaltener Gesundheitsstandards und ausfallender Löhne: Aktuell laufen Proteste von LKW-Fahrer*innen in mehreren Bundesstaaten der USA, russische Bauarbeiter*innen streiken wegen mangelnder Gesundheitsvorkehrungen und hunderte Textilarbeiter*innen protestieren in Dhaka/Bangladesh für Löhne in Zeiten des Lockdown. In den USA gab es kollektives Krank“feiern“ von technischen Angestellten bei Amazon in Unterstützung ihrer Kolleg*innen in den Warenlagern und diese Liste ließe sich beliebig erweitern.

All diese schönen Ausschnitte des Klassenkampfes sind nicht nur Momente der Hoffnung, sondern bauen in vielen Fällen auch auf vorangegangen Organisierungsbemühungen auf, ob in den Arbeitskämpfen im Logistik- oder Pflegesektor, der Stadtteilarbeit, welcher sich viele linke Strukturen wieder gewidmet haben oder die wilden Monate des Widerstands in Chile, die an alltägliche Erfahrungen rückgebunden werden. Damit sind diese Momente auch kein Zufall, sondern oftmals das Ergebnis monate- oder jahrelanger Vorarbeit. Organisierung lohnt sich also!

Damit ist die Situation vielleicht nicht offen, aber sie offenbart, dass der Kapitalismus immer weniger in der Lage ist die eigenen Widersprüche zu vertuschen. Wenn Krankenhäuser schlecht ausgestattet sind, wenn Menschen trotz Lebensgefahr zur Arbeit müssen, während sich alle anderen zuhause isolieren sollen, wenn die gesellschaftserhaltenden Arbeiten am geringsten oder gar nicht entlohnt werden, zeigt sich deutlich, dass für dieses System die Profite und nicht Menschen zählen. Und damit offenbart sich auch, dass es ein anderes System braucht, in dem wir nicht zur Arbeit gehen müssen, wenn das zu Lasten der Gesundheit geht, in dem wir keine Miete zahlen müssen, wenn wir sie nicht haben, ein System in dem Care-Arbeit gleichmäßig auf alle Schultern verteilt ist und in dem wir keine Angst vor dem Alleinsein haben müssen.

Vielleicht ist das Fenster der Möglichkeiten aktuell nicht offen, aber wir können genug Kraft entwickeln, um es einzuschlagen.

Scheiß Corona! Scheiß Kapitalismus! Für die soziale Revolution!